Das Innere Kind gehört zu den inneren Archetypen (wie Erwachsener, Krieger, Mann, Weib usw.) unserer Persönlichkeit. Dies sind unterschiedliche Erlebnis- und Reaktionsebenen in uns. Jeder Mensch hat auf der Erlebnisebene des Inneren Kindes ein anderes Wesen. Er kann sehr feinfühlig, mitfühlend, offen, lebendig oder eine Mischung aus diesen Gaben sein.
Im Laufe unseres Lebens werden unsere Inneren Kinder geprägt, konditioniert oder sie verstricken sich. Ein feinfühliges Inneres Kind, das aus seiner Umgebung jede Änderung der Atmosphäre aufnehmen kann, zieht sich vielleicht permanent in uns zurück, um sich zu schützen. Oder es nimmt äußere Spannungen und die unverarbeiteten Gefühle anderer in sich auf und fühlt sich einsam und belastet. Solche inneren Kinder können durch eine grobe Bemerkung oder Geste bis ins Mark erschüttert und verletzt werden.
Die mitfühlenden Inneren Kinder neigen eher dazu, sich helfend und unterstützend ihren Familienangehörigen und Freunden zuzuwenden. Sie sind meistens überfordert und überlastet, weil sie niemandem wirklich helfen können, da alle um sie herum machen was sie wollen. Diese Inneren Kinder sind oft voller Schmerz, fühlen sich nicht gesehen und nicht geliebt. Können jedoch auch keine Liebe empfangen, weil sie sich schon früh verschlossen haben. Ihnen ist es wichtig, dass Liebe echt und wahr ist, denn sie sind tatsächlich Spezialisten auf diesem Gebiet.
Die offenen und lebendigen Inneren Kinder brauchen ein kreatives und inspirierendes Leben. Sie neigen dazu, sich zu verweigern, wenn es langweilig und öde wird. Dann können sie sich nicht weiten und entfalten, nörgeln herum und sind schlecht gelaunt.
So würde ich mal grob beschreiben, wie ich die unterschiedlichen Inneren Kinder in meiner Arbeit erlebe. Natürlich sind Innere Kinder in ihren Reaktionen wesentlich vielschichtiger und vielfältiger.
Das ursprüngliche Wesen unseres Inneren Kindes geht nicht verloren, während wir vom Leben geprägt werden und unsere Verhaltensmuster lernen. Man könnte es so ausdrücken: das natürliche Wesen liegt unter unseren Konditionierungen und Identifizierungen. Das Feingefühl, das Mitgefühl und die lebendige Offenheit würden sich sofort entfalten, wenn unsere Prägungen, Muster und seelischen Verletzungen plötzlich abfielen. Manchmal, wenn es sehr schön ist, wir verliebt sind, in der Natur oder in Meditation sind, dann können wir diese feine Ebene in ihrer natürlichen Form in uns spüren und erleben.
Unsere Inneren Kinder haben es oft sehr schwer oder sie machen es unseren Mitmenschen schwer. Das passiert, wenn wir nicht im Kontakt mit ihnen sind und für sie die volle Verantwortung übernehmen. Dann reagieren sie blind aus ihrem sensiblen Wesen oder aus ihrer Prägung heraus.
Folgende Beispiele aus meinem Praxisalltag können das veranschaulichen:
Ein Mann will Sex mit seiner Frau. Sie zieht sich zurück, will nicht bedrängt werden und sie hat das Gefühl, dass ihr das, was von ihm kommt, zu viel ist. – Hier reagiert die Frau mit ihrem Inneren Kind auf den Mann. Das Innere Kind will natürlich keinen Sex, dafür ist das Innere Weib zuständig.
Eine Frau erkundigt sich ständig bei ihrem Mann, wie es ihm geht und bedrängt ihn dabei. Er ist genervt. – Hier geht die Frau mit ihrem Inneren Kind ständig über seine Grenzen und erspürt sein Unwohlsein. Ihr Inneres Kind will dann, dass dieses Unwohlsein aufhört, um sich selber wohl fühlen zu können. Reagiert der Mann genervt, ist das Innere Kind der Frau auch noch verletzt.
Der Mann wird laut. Die Frau weint und fühlt sich ohnmächtig. – Auch hier steht das Innere Kind der Frau vorn, obwohl es den Spannungen des Mannes nicht gewachsen ist, denn das ist ein Fall für die Innere Kriegerin, die sich in angemessener Spannung dem Mann entgegen stellen kann.
Ein Kind sagt zu seiner Mama: du bist Scheiße! Die Frau zieht sich beleidigt zurück. – Das Innere Kind wurde hier von der Wut eines Kindes getroffen. Eigentlich braucht es in einem solchen Fall die Reaktion eines (humorvollen) Inneren Erwachsenen.
Eine Frau lehnt entschlossen einen Vorschlag ihres Mannes ab. Er weint. Sie findet ihn abstoßend. Er sie herzlos. – Hier reagiert der Mann auf die Ablehnung der Frau mit seinem Inneren Kind. Wenn der Mann nicht in liebevoller Verantwortung zu seinem Kind steht, dann erwartet er Trost von seiner Frau. Das empfindet die Frau als abstoßen, denn sie spürt seine Forderung für ihn in die Verantwortung gehen zu müssen. Er fühlt sich noch mehr abgelehnt und sein Inneres Kind ist zutiefst verletzt.
Ein Mann ist betrunken. Seine Frau zieht sich gekränkt zurück und findet ihn widerlich. – Auch hier reagiert die Frau mit ihrem Inneren Kind. Ihr Weib hätte vielleicht gesagt: Ach schade Süßer, wir hätten jetzt noch herrlichen Sex haben können, doch dazu stinkst du mir zu sehr. Viel Spaß auf dem Sofa … Das würde nicht oft vorkommen ;o)
Eine Frau bekommt vom Amt einen Ablehnungsbescheid und weint. – Hier fühlt sich das Innere Kind überfordert und nicht versorgt. Die Innere Erwachsene würde vielleicht sofort einen Widerspruch schreiben und die Sache klären.
Ein Mann zieht sich zurück, wenn seine Frau ihm nah sein will. Die Frau fühlt sich abgelehnt. – Sein Inneres Kind will nicht berührt werden. Alte Verletzungen werden durch zwischenmenschliche Nähe an die Oberfläche gebracht. Vor allem körperliche Nähe kann da sehr unangenehm werden. Sein Innerer Mann könnte dies angemessen kommunizieren, so dass die Frau sich geachtet und gewürdigt fühlt.
Eine junge Frau telefoniert ihrem Freund hinterher. Dieser geht nicht mehr ans Telefon, weil es ihn nervt. – Wenn wir verliebt sind oder jemanden sehr lieben, dann spürt unser Inneres Kind während der Abwesenheit des geliebten Menschen ein starkes inneres Sich-hingezogen-fühlen. Aus diesem Soggefühl heraus belagert es dann den Anderen. Das innere Weib liebt diese Spannung, die durch Trennung entsteht. Ihr macht das Lust.
Unsere Inneren Kinder sind vielen Situationen des Alltags nicht gewachsen. Und doch stehen sie so oft vorn und versuchen mit so vielem klar zu kommen, was sie jedoch oft nur noch mehr verletzt, sie leiden lässt, sie in Unwohlsein und Überforderung stürzt.
Im Grunde ist unser Inneres Kind eine Erlebnisebene besonderer Feinfühligkeit und Verbundenheit. Aus sich heraus ist es sanft, fein, unschuldig, sich ausdehnend, offen, herzlich und sensibel. In ihm schlummern oft alte Sehnsüchte nach Harmonie, wahrhafter Liebe, gesehen werden wollen, in der Natur sein wollen sowie nach menschlicher Wärme und Geborgenheit. Das alles können wir unseren Inneren Kindern geben, denn dafür sind wir verantwortlich, oder es ihnen ausreden – ja, tatsächlich – es gibt innere Kinder, denen muss man sagen, dass die Welt nicht nur harmonisch und liebevoll ist, sondern auch hässlich, disharmonisch, laut und schrecklich, und dass das alles dazu gehört und andere Ebenen in uns damit gut umgehen können. Dann kann es Abstand dazu finden und sich wieder öffnen.
Wenn wir Grenzen ziehen müssen, Wut und Spannungen ausgesetzt sind, dann brauchen wir unseren Inneren Krieger und die Innere Kriegerin, denn die kennen sich damit bestens aus und können angemessen reagieren. In der Paarbeziehung und wenn es um Lust und Sex geht, dann sind der Innere Mann und das Innere Weib wahre Spezialisten. Geht es um Verantwortung und um Entscheidungen, dann muss der/die Erwachsene vorn stehen und wenn wir etwas genießen, etwas erspüren, uns tief verbinden und kreativ sein wollen, dann kann das unser Inneres Kind am besten.
Mit all diesen Erlebnisebenen erfahren wir ein und die selbe Situation auf unterschiedliche Weise und mit den verschiedenen Begabungen, die diese Archetypen haben, können wir entsprechend reagieren. Wir können es lernen, in Verbundenheit mit uns selbst, uns auf diesen Ebene zu bewegen und sie zu wechseln, wie es eben gebraucht wird.
Sie sind die Erste, die es geschafft hat, mir „das innere Kind“ verständlich zu beschreiben. Vielen herzlichen Dank auch für die einleuchtenden Beispiele.
Das freut mich. Genau dafür sind diese Texte da.
Mit besten Grüßen
Judith
Danke für die Beispiele! Macht das Begreifen immer viel einfacher.
Wenn man sich neu mit einem Thema beschäftigt kann man solche Transferleistungen noch nicht erwarten.